Ostberlin 1953. Frieda und Stalin. Und Frau Elstermann wäre auch fast gestorben.
Die Erde hatte aufgehört, sich zu drehen. Sie trudelte aus. Es würde noch Jahrhunderte dauern, bis die Schwerkraft aufhörte zu existieren, aber der Anfang war gesetzt. Etwas Schreckliches war geschehen.
Die Feuersirene auf dem Hauptdach schlägt Alarm und kündet vom plötzlichen Aussetzen der Zeit. Kirchenglocken rufen nach Gott, der Märzhimmel bricht auf, Schneeglöckchen blühen im Kollektiv. Das Geländer des Treppenhauses stemmt sich gegen den ungeordneten Laufschritt der Schüler, die Stufen ächzen unter der Last.
Auf dem Schulhof salutiert Genossin Elstermann und wartet auf die Meldungen der Klassenleiter vor dem Fahnenappell. Alle Schüler vollzählig angetreten! Immer bereit!
Tränen funkeln auf Elstermanns Wangen.
„Unser Genosse Joseph Wissarionowitsch Dshugaschwili Stalin ist tot“, spuckt sie ins Mikrofon, es knackt, dann bricht sie zusammen und wird von den Hausmeistern weggetragen. Der Himmel zieht wieder zu, eisige Nieselböen peitschen auf Friedas Nacken. Die Stellvertretende Direktorin hebt hastig die Faust zum Kampfgruß der Arbeiterklasse, beendet den Appell und befiehlt unterrichtsfrei. Stattdessen werden russische Heldenmärchen vorgelesen und vom Leben „Jussuf des Schrecklichen“ erzählt. Dazu gibt es Gebäck und Tee aus dem Samowar, man kann den Lehrern beim Weinen zusehen und ihnen Taschentücher reichen. Die, die keine Taschentücher brauchen, schlagen ihre Augen nieder, damit man nicht hineinsehen kann. Feuchte Tonklumpen liegen zum Kneten bereit. Stalin hängt Modell. Friedas Jussufköpfchen weist die größte Ähnlichkeit mit Dshugaschwili auf. Am Nachmittag marschiert ein Blauhemd aus der Oberstufe in den Hort und führt Frieda ab. Im Heizungskeller steht Frau Elstermann vor dem Brennofen, den noch warmen Kopf in der Hand.
„Lob, Frieda Baum, Lob! Bin stolz auf dich! Dein Jussuf wird heute Nacht neben dem großen Ehrenportrait im Amalienpark wachen dürfen. Und du, stellvertretend für alle trauernden Pioniere unserer Grundorganisation, stellst das Geleit. Schweig! Angst vor der Dunkelheit ist kein Grund, seinen Beitrag zum Weltfrieden zu verweigern. Alles weitere hier, in dem Brief an deine Eltern. In den Ranzen stecken. Ab nach Hause, Marsch!“
Simon und Anna sitzen schweigend am Küchentisch. Das Radio auch.
„Etwas Schreckliches ist geschehen…“
„Ich weiß“, kürzt Frieda ab und plappert los. Erzählt vom schönsten aller Tage, den sie heute in der Schule hatten.
„…und die Elstermann wäre auch fast gestorben, die Hausmeister haben sie in den Keller getragen, dort hat sie mir einen Brief geschrieben und auf mich gewartet. Und mir gesagt, dass sie mich am besten von allen findet, und meine Freundin werden will.“
„Hör auf mit dem Unsinn. Zieh dir die Schuhe aus und zeig den Brief.“
Immer das gleiche. Zieh dir die Schuhe aus! Wasch dich unten rum! Trockne die Hände ab! Häng deine Jacke auf! Stell die Mappe weg! Immer wenn es schön wurde, bellte Anna ihre Vierwortsätze.
Besser als die Dreiwortbefehle: Deck den Tisch! Geh ins Bett! Jetzt spreche ich! Aber heute war Stalin tot, und Frieda hoffte, dass er es noch eine Weile sein würde.
Anna liest vor.
Dauer der Ehrenwache: zwei Stunden. Dienstablösung durch die Kameraden der Freien Deutschen Jugend: Mitternacht. Verboten: Rauchen, Essen, Trinken, das Verlassen der Wachen wegen Notdurft, Gespräche mit der Westpresse und das Zündeln an der Ewigen Flamme.
Anna klopft auf den Küchentisch und liest lauter: EHRENWACHE IST EHRENSACHE.
„Mädel, allein gehst du auf keinen Fall, ich komme mit! Du gehst ins Bett und schläfst vor. Ich wecke dich dann.“
Simons Kampfgruppenuniform raschelt im Flur. Stiefelschritte. Die Tür fällt ins Schloss. Vor dem Fenster steht die Nacht. Fest und schwarz, der Vollmond hängt hinter den Wolken und versaut alles. Alles! Anna würde in eines ihrer Zeitlöcher fallen, ihre Dunkelheitsparalyse bekommen und in den unmöglichsten Momenten einfrieren. Warum muss ausgerechnet heute der Mond ausfallen? Ehrenwache ist Ehrensache, für Stalin und die Elstermann. Macht Frieda eben selbst den Mond.
Frieda steht auf, zieht sich an, kontrolliert Taschenlampe, Ersatzbatterien und wartet auf den Start.
Die Peinlichkeiten beginnen schon in der S-Bahn. Als wenn sie es geahnt hätte. Überfüllte Waggons. Ordnungskräfte, Blauhemden, Winkelemente. Auf dem Heimweg von der Trauerkundgebung am Bebelplatz. Anna und Frieda passen auch noch rein. Volkspolizisten auf Urlaub hängen sich außen an die Messinggriffe und grölen das Aufbaulied. Oder von der besseren Zukunft? Egal. Der Schaffner ist sowieso schon sauer.
Die Türen blockieren. Drinnen singen sie jetzt die Internationale. Draußen: Bau auf, Genosse, bau auf.
„Mama, wenn wir laufen, sind wir schneller.“
Ein Ruck geht durch die Menge. Die Sänger fallen von den Haltegriffen. Was hat Anna mit der Notbremse zu schaffen? Die Lautsprecher brüllen.
„Scheiße, noch mal, Kroppzeug, versipptes! Euch haben se wohl vergessen zu vergasen oder was! Schluss aus, raus, alle raus!“
Anna pumpt, drängelt, rennt. Frieda hinterher, bremst. Zu der Geisteskranken neben dem Schaffner gehört sie nicht. Annas Stimme dröhnt über den Bahnsteig.
„Das sagst du nie wieder! Nie wieder. Entschuldige dich! Oder ich schlag dir den Schädel ein!“ Die Stirn des Zugabfertigers knallt gegen die Sprechsäule neben dem Häuschen. Wie soll er sich entschuldigen, wenn Anna seinen Mund gegen die Membran drückt. Wenn er kotzt, auf seine Schuhe, die Säule, alles voll. Es reicht! Das ist schon mehr als ein gestohlener Anfang. Das ist gemein! In zehn Minuten ist Wachenwechsel im Amalienpark. Soll sich Anna doch alleine ankotzen lassen! Und jetzt schiebt sich auch noch eine Wolke vor den Mond. Anna steht über ihrer besudelten Geisel und friert ein. Frieda zerrt die Lampe aus der Jackentasche: Der Mond!
Anna blinzelt und nimmt Friedas Hand. „Mädel, wenn wir rennen, schaffen wir es.“
Friedas Jussufköpfchen steht unter Stalins Bronzekinn und wartet schon. Anna und Frieda, zu beiden Seiten des Sockels lauschen in die stockfinstere Nacht. Anna zittert und tritt von einem Fuß auf den anderen. Frieda friert auch und tritt nicht. Anna forscht sie von der Seite an. Frieda hat nicht die geringste Lust, es zu bemerken. Blöde Kuh!
Wir Pioniere achten und lieben unsere Eltern.
Wir lieben die Wahrheit.
Wir lieben den Frieden.
Wir lieben die friedliebenden Völker der Welt.
Wer liebt mich eigentlich, bis ich mal Kinder habe, die mich achten und ehren müssen?
Die ewige Flamme knistert heiser. Jussuf unter Stalins Kinn liegt auch schon tief im Vaterschatten. Und der Holzhaufen am Eingang des Parks liegt jenseits der Nachtgrenze. Das Feuer frisst sich selbst, züngelt nervös und schweigt.
„Anna?“
„Psst, Schritte!“
Eine Flasche kollert dumpf auf den Sand. Gefolgt von einem Schwall russischer Flüche. Anna zieht Frieda hinter den Sockel und drückt ihr die Hand auf den Mund.
„Russen. Nur zwei. “
Während der eine fluchend nach der Flasche tritt, versucht der andere, sie schnaufend aufzuheben. Er streift Friedas Fuß.
Wir lieben die Völker der Sowjetunion. Wir lieben alle friedliebenden Völker der Welt, das geloben wir.
Der Schnaufer findet die Flasche, zieht Stalin eins über den Schädel und rollt sich in Deckung. Der Flucher nestelt schlingernd am Hosenschlitz und pinkelt in die Asche der ewigen Flamme. Es zischt. Die Männer springen in Hockstellung, Rücken an Rücken, und suchen nach Heckenschützen.
Vom hinteren Parkeingang nähern sich Lichtkegel, das Lied vom kleinen Trompeter schallt über die Rasenfläche.
Die Russen fallen sich in die Arme und torkeln weinend davon.